Die Suche nach der Quelle kostet einen russischen Sicherungstaucher das Leben. Und bringt einen britischen Tieftaucher in eine Zwickmühle aus Schmerzen und Kälte.
Blanke Felsen ragen an einem Ort im Süden Russlands aus dem Boden. Die Schneekronen hoher Berge schimmern weiß. Düstere Schluchten teilen die Bergkette. In ihnen wehren sich wilde, ungezähmte Flüsse gegen die natürliche Begrenzung der Felsen.
Es scheint, als ergebe sich das Gestein und lasse sich von der Kraft des Wassers auseinanderstemmen. Dann strömt der reißende Fluss von seinen Fesseln befreit über offenes Land, vorbei an grünen Wiesen und dichten Wäldern. Die kaukasischen Berge. Die Menschen, die hier leben, haben sich daran gewöhnt, den Horizont nicht sehen zu können. Das Leben dreht sich hier um eine senkrechte Achse: In den Legenden der Einheimischen schießen die Helden Pfeile in Richtung Sonne; die allerersten Menschen kamen von oben, aus dem Himmel; der Weg über den Tod hinaus beginnt in der Quelle am Rande des Dorfes; die Märchenhelden brechen nie ins Unbekannte auf – sie müssen die Berge besteigen oder bergab gehen. Entfernungen haben keine Bedeutungen für die Menschen der kaukasischen Berglandschaft. Es gibt nur zwei Konstanten in ihrem Leben: den unerreichbaren Himmel über ihren Köpfen und einen ihrem Glauben nach bodenlosen See zu ihren Füßen: Chirek-Kel, der Blaue See.
Suche nach der Quelle
Der unergründliche Riesentopf ist seit jeher ein Schauplatz von Rekordversuchen. 2004 wurde der russische Tieftauch-Rekord im kalten Blau des Sees aufgestellt: Igor Galayda und Roman Prokjorov flösselten hinab bis auf 180 Meter Tiefe und wurden zu nationalen Tauchlegenden. Acht Jahre lang brach niemand ihren Rekord.
Bis 2012, als ein Expeditionsteam mit den besten russischen Tech-Tauchern in den Kaukasus kommt – darunter selbstverständlich Prokhorov und Galayda. Jedes einzelne Teammitglied soll in große Tiefen abtauchen, dort Proben nehmen, Untersuchungen durchführen – und im Optimalfall die Quelle des Sees finden. Doch eine Person wird tiefer gehen als alle anderen Taucher: Martin Robson, einer der besten Tech-Taucher der Welt und Ex-Mitglied der britischen Royal Navy. Die Sonne scheint, und für Januar ist es sogar angenehm warm am Ufer. Aber tief im See wartet die Kälte auf Robson, sein Hauptgegner auf dem kommenden Tauchgang
Container als Habitat
Um der Unterkühlung während der langen Dekompression entgegen zu wirken, haben wir einen aufwändigen Dekostopp-Checkpunkt eingerichtet: ein großer Container als Habitat, in einer Tiefe von 4,5 Metern. Hier soll Robson seinen längsten Dekostopp durchstehen. Roman Prokhorov entwirft einen bequemen Sitzplatz und richtet sogar eine elektrische Leitung von der Oberfläche ein. Robson wird diese benutzen um seinen Anzug aufzuheizen, denn es war klar, dass keine Batterie ihn auf einem derart langen Tauchgang (oder während derart langer Dekostopps) warm halten würde. Vor Robsons Ankunft testen wir das Habitat. Es ist angenehm dort und viel wärmer, da man sich komplett außerhalb des eisigen Wassers befindet.
Allein in den Abgrund
Am Samstag, 7. Januar, kommt Robson an, und mit ihm eine Riesenmenge an Equipment. Das Tauchcenter wirkt von nun an geschäftig wie ein Ameisenhaufen. Alle Taucher testen ihre Ausrüstung zum zehnten Mal, studieren ihre Tauchpläne übergenau. Als wahrer Brite reißt Robson ständig trockene Witze, doch als wir die Vorbereitung und Besprechung des Tauchgangs beginnen, wird er ernst und fordernd. »Die Hilfstaucher sind wichtiger als ich«, sagt er. Hört sich seltsam an, ist aber wahr, denn das gesamte Team arbeitet für Robsons Sicherheit und ist im Notfall darauf vorbereitet ihm zu helfen. Wenn aber ein Supporttaucher Probleme hat, kann er sich nur auf sich selbst und seinen Buddy verlassen. Der letzte Sicherungstaucher befindet sich auf einer Tiefe von etwa 100 Metern. Nur der Brite soll noch hundert Meter tiefer tauchen. Allein in den Abgrund.
Freitag, der dreizehnte
Eine Kaltwasserschicht bei etwa 100 Metern hat den Geologen und Karstexperten Nikolai Maksimovich zu der Vermutung geführt, dass der Ursprung des in den See fließenden Wassers irgendwo in dieser Tiefe zu finden ist. Unsere Suchstrategie basierte auf folgendem Plan: Robson taucht hinab auf eine Tiefe von 160 Metern und schwimmt von dort langsam nach oben. Dabei inspiziert er den Abhang. Drei Erkundungstauchgänge sind geplant. Ausgerechnet am Freitag, 13. Januar, steht der erste an. Unbeeindruckt von irgendeinem Aberglauben taucht Robson auf die geplanten 160 Meter.
Auf dem Rückweg trifft er in 90 Meter Tiefe auf das erste Paar Sicherungstaucher. Alles nach Plan. Sie tauschen Robsons Gasflaschenkranz aus und nehmen ihm den Scooter ab, der unnötig geworden ist. Zu dritt setzen sie den Aufstieg fort. Die nächsten Sicherungstaucher sind nicht mehr weit. Doch auf 60 Metern fehlt von der nächsten Unterstützungstruppe jede Spur. Etwas ist schief gegangen.
Lebloser Körper
Robson schickt die unteren Sicherungstaucher sofort zu ihrem Dekostopp. Auf 16 Metern Tiefe finden sie den regungslosen Körper von Andrej Rodionov auf einem Steinvorsprung; er hätte das Team auf 60 Metern treffen sollen. Sie bringen Rodionov an die Oberfläche und tauchen wieder ab, um ihren Dekostopp durchzuführen. Die Dekompressionskrankheit duldet kein geschocktes Innehalten angesichts des Todes eines Teamkollegen.
Das Notfallteam am Ufer beginnt sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. Vergebens. Rodionov ist tot. Eine Untersuchung seines Equipments und Tauchcomputers bringt die tragische Ursache des Unglücks ans Licht: Er hatte vergessen, seinen Sauerstoff-Vorrat an den Kreislauf anzuschließen. Seine Freunde berichten, dass ihm das schon öfter passiert sei.
Allein in der Kälte
Keiner weiß, warum er seinen Rebreather vor dem Tauchgang nicht noch einmal überprüfte, warum er nicht auf seinen Computer sah, der ihm deutlich anzeigte, dass der Sauerstoffanteil im Kreislauf im kritischen Bereich lag. Und dazu war er alleine in der kalten Tiefe. Rodionov hatte zum mittleren Paar der Sicherungstaucher gehört. Doch der Tauchgang war lang und bitterkalt, und so entschied sich das Buddyteam sich aufzuteilen.
Rodionov sollte Robson von 60 bis auf 30 Meter begleiten, und sein Buddy würde von da an übernehmen. Während der gesamten Tauchzeit filterte der Rebreather gewissenhaft das Kohlenstoffdioxid aus dem Kreislauf – aber ohne der Atemluft Sauerstoff zuzusetzen. Der menschliche Körper reagiert nur auf einen Kohlendioxid-Überschuss mit Atemreiz, warnt aber nicht vor einem Mangel an andern Gasen. Auch nicht vor Sauerstoffmangel. Das wurde Rodionov zum Verhängnis. In nur zwei Metern Tiefe verlor er das Bewusstsein und sank langsam auf 16 Meter Tiefe.
Am Tiefpunkt
Viele Mitglieder des Hilfsteams gehen zu seiner Beerdigung. Zögerlich einigt man sich, die Expedition mit einem letzten Tauchgang zu Ende zu bringen. Und so ist das Team am Donnerstag, 19. Januar, bereit für einen letzten Vorstoß. Diesmal hört man keine britischen Witze. Wir checken unsere Ausrüstung ausführlich, gewissenhaft, und betreten das Wasser. Die finale Aufgabe ist es, den Grund zu erreichen und Proben zu entnehmen. Nun ist der Grund des Blauen Sees ein Kegel mit unterschiedlichen Tiefen zwischen 190 und 258 Metern. Es ist nicht nötig, die 258-Meter-Marke zu erreichen – was hätte es uns gebracht außer einem neuen Rekord und dem Risiko, ein weiteres Expeditionsmitglied in Lebensgefahr zu bringen? Robsons Rebreather ist für eine Tiefe von bis zu 200 Metern zertifiziert, also wird ein Platz ausgewählt, an dem er den Grund erreichen wird, ohne diese Tiefe zu überschreiten.
Von dem Zeitpunkt an, an dem die Wasseroberfläche über Robson zuschlägt, beginnt die nagende Sorge an Land, unter den Teilnehmern der Expedition, den Mitarbeitern in Moskau, den fernen Freunden und Verwandten daheim. Auf 209 Meter Tiefe erreicht Robson den Seegrund. Endlose zwei Minuten bleibt er auf dem Grund, dann beginnt er seinen Aufstieg.
Schmerzen in der Deko
Aufatmen an Land, doch auf 23 Metern beginnt das Prickeln in Robsons Beinen. Bald darauf kommt der Schmerz. Der Brite bleibt ruhig und taucht erneut bis auf 37 Meter ab. Nach einiger Zeit ein neuer Versuch. Langsam steigt der Brite auf, langsamer sogar, als sein Tauchcomputer ihm empfiehlt. Es scheint, als ob das Problem behoben wäre. Bevor er den Habitat betritt, schreibt er ein paar russische Worte auf seine Tafel: »209 Meter für Andrei«. Eine Ehrenbezeigung für unseren toten Freund.
Zehn Minuten verbringt Robson in der relativen Wärme des Habitats. Dann kehrt der Schmerz zurück. Er ist gezwungen erneut in die Tiefe zurückzukehren. Kalter Schweiß bricht bei der Crew an Land aus. Der Albtraum aller Tech-Taucher ist eingetreten. Robson befindet sich in der Dekompressions-Zwickmühle. Er wird nicht unendlich lange in der Tiefe bleiben können, wo die Kälte ihn früher oder später paralysieren würde – doch auftauchen kann er wegen der großen Schmerzen und den zu erwartenden Folgen der Dekompression auch nicht.
Der unglaubliche Brite hat vermutlich kein Blut in seinen Venen, sondern Frostschutzmittel. Robson verliert die Selbstkontrolle nicht und fällt keinen Augenblick in Panik. Noch zwei weitere Male versucht er zu rekompressieren, taucht tiefer hinab und wieder zurück zum Habitat, bis ihn die zunehmende Kälte letztendlich an die Oberfläche treibt. Dort wartet bereits der Krankenwagen mit vorgeheiztem Motor. Ohne Hilfe geht er zum Auto. Doch beim Krankenhaus in Nalchik angekommen sind seine Beine bereits gelähmt.
Rettung aus der Luft
Am Freitagmorgen wird klar, dass die Dekompressionskammer in Nalchik nur einen Druck entsprechend 15 Meter Wassertiefe aufrecht erhalten kann – zu niedrig für die Stickstoffanreicherung in Robsons Körper. Der humorvolle Tieftaucher liegt im Sterben. Ein Transport ist unmöglich, da der Engländer die Druckminderung eines Fluges niemals überleben würde. Die einzige Hoffnung liegt in einer mobilen Dekompressionskammer, Eigentum einer Spezialeinheit des russischen Militärs, die Meilen von Nalchik entfernt ist.
Die Offiziere der Einheit sind sofort bereit zu helfen, doch sie benötigen das Einverständnis des Ministeriums. Als der Minister den Befehl gibt, dem mutigen Royal Marine-Kommandomitglied Martin Robson zu helfen, ist dessen Lähmung bereits bis zum Brustkorb fortgeschritten. Doch dann landet das Spezialflugzeug IL-76 im Kaukasus, an Bord die Dekompressionskammer und Professor Sokolov vom Moscow Institute of Biomedical Problems. Neun Tage verbringt Robson in der Dekokammer, dann hat er sich vollständig erholt. Heute taucht er wieder. Doch von der gigantischen Unterwasser-Höhle, aus der das Wasser des Blauen Sees sprudeln muss, fehlt noch immer jede Spur.
Infos über das Autorenteam: http://ordacave.ru/en/
Alle Fotos: Victor Lyagushkin