Süßwasserquallen in deutschen Seen
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Fremdlinge

Süßwasserquallen in Deutschland sind selbst für alte Tauchhasen ein Mysterium. Sie blühen nur im Spätsommer und Frühherbst auf, sofern die Wassertemperaturen 26 Grad erreichen. Die Wenigsten wissen: es handelt sich um eine eingewanderte Art aus China.

Daniel Brinckmann

Sie sind in Kiesgruben und anderen flachen Seen mit Barsch und Hecht auf »Du und Du«? Dann begegnet ihnen eines Tages auch Craspedacusta sowerbii. Wenn völlig aus dem Blauen, respektive Grünen, plötzlich eine Meduse vor dem Maskenglas schwebt, zucken alle unbedarften Taucher unwillkürlich zusammen. Denn im Überraschungs- oder auch Schreckmoment diktiert das Gehirn dann nur einen Gedanken: „Eine Qualle? Hier?!“

Süßwassermedusen leben nicht nur im Meer oder in über Jahrtausenden vom Ozean abgetrennten »Quallenseen« in Indonesien oder Palau, in Flussmündungen und Brackwassermeeren wie der Ostsee oder dem Grevelinger Meer. Von den zwanzig weltweit beschriebenen Arten von Süßwasserquallen lebt allein die Craspedacusta in deutschen Binnengewässern. Und zwar erst seit dem frühen 20. Jahrhundert.

Süßwasserqualle als Rekordhalter

Die Süßwassermeduse besteht zu mehr als 99 Prozent aus Wasser. Womit sie Rekordhalterin im gesamten Tierreich ist. Zwar mutet sie dadurch primitiv an. Jedoch hat sie vom Becken des chinesischen Stroms Yangtse einen globalen Siegeszug angetreten, der selbst den Elektronikkonzern Huawei neidisch machen dürfte. Kaum ein anderes Wasserlebewesen hat sich innerhalb eines halben Jahrhunderts ohne gewollte Unterstützung so rasant und flächendeckend von Asien aus quer über den Erdball verbreitet.

Süßwasserquallen in Deutschland

Mit Ausnahme der Antarktis hat die Meduse, kaum größer als eine Zwei-Euro-Münze, warme Seen und träge Flüsse kolonisiert. Nach Europa kam die Art vermutlich als blinder Passsagier, an einer importierten Teichpflanze haftend. Schließlich wurde sie 1880 erstmals im Seerosenbecken des botanischen Gartens in London entdeckt.
In Deutschland wurde sie erstmals 1923 in einem Baggerloch bei Aschaffenburg nachgewiesen. Dann 1931 im brandenburgischen Finow-Kanal. Und noch im selben Jahr im Kölner Volksgartenweiher.

Warum konnte sich die Süßwasserqualle so rasant ausbreiten?

Ihre rasante Verbreitung verdankt sie ihrem Lebenszyklus sowie einer gleich dreifachen Fortpflanzungsstrategie: Ehe das Nesseltierchen bei Erreichen einer Wassertemperatur von 26 Grad für weniger als einen Monat zu einer freischwimmenden Meduse wird, lebt es als kaum zwei Millimeter kleiner Polyp gleich einer Mini-Anemone am Seegrund und filtert dort Einzeller, Räder- und Krebstiere aus dem Wasser. Bevor sie das Medusen-Stadium erreicht, kann sie sich bereits ungeschlechtlich vermehren. Ihr Sockel, der Podocyst, enthält embryonale Informationen, kann sich über Zellteilung unbegrenzt reproduzieren und auch dann neue Polypen bilden, wenn tiefe Wassertemperaturen für eine lange Latenzphase sorgen und der Wirt abgestorben ist.

Die Art kann sich auf verschiedenste Weise verbreiten: über vom Wind versprengte trockene Blätter, das Gefieder von Wasservögeln, Bootsrümpfe, Pflanzen und auch Tauchequipment. Selbst wenn ein Teich zwei Jahre trockengefallen ist, können Podocysten nach starken Regenfällen oder plötzlichem Hochwasser etliche neue Polypen entwickeln. Dadurch sorgen sie in warmen Sommern für eine regelrechte »Quallenpest«. An sonnigen Tagen treiben die Tiere an die Oberfläche und jagen mit ihren mit explosiven Nesselzellen besetzten Fangarmen. Die menschliche Haut durchdringen die bis zu 400 stummelartigen Fortsätze zwar nicht. Dennoch: spürbar ist der Quallenteppich für Schwimmer allemal.

Mittels spezieller Sinnesorgane in einer der beiden Zellschichten können die scheinbar so primitiven Medusen auch ohne Gehirn Hindernisse, potenzielle Feinde und Geschlechtspartner identifizieren. Superzellen sorgen dafür, dass etwa von Fischen erbeutete Körperteile nachwachsen.

Süßwasserqualle in Deutschland

Und was geschieht nach dem Sommer?

Die fotografierende und filmende Zunft sollte sich nach den ersten Sichtungen nicht allzu viel Zeit mit der Jagd nach den durchscheinenden Motiven lassen: Sobald sich die Quallen im Herbst reproduziert haben – was im Medusen-Stadium klassisch geschlechtlich mit Eiern, Spermien und Befruchtung im Wasser erfolgt – sterben sie ab. Danach enden sie als gallertartiges Fischfutter am Grunde ihres Biotops. Die Larven werden kurz darauf am Grund sesshaft. Dort bilden sie als Polypen die neue Generation.

Wer Craspedacusta sowerbii auf die Spur kommen möchte, kommt ohne Thermometer oder ein Netzwerk von Sportsfreunden nicht aus. Selbst in ausgewiesenen Süßwasserquallen-Seen – üblicherweise reich bewachsene, wenig belastete Gewässer – lassen sich die Tiere über Jahre nicht blicken, wenn die Temperatur eben nicht die 26-Grad-Marke knackt.

Zumindest in dieser Hinsicht spielt einem die Erderwärmung in die Karten: Waren Begegnungen mit der einzigen Süßwasserqualle Europas vor knapp 30 Jahren noch das Gesprächsthema Nummer Eins nach dem sommerlichen Nachttauchgang, häufen sich die Sichtungen von Quallenblüten mit den Rekordsommern der vergangenen Jahre.

Aus zehntausenden Exemplaren bestehende Teppiche der Nesseltiere lassen sich kaum spektakulär auf Speicherkarte bannen – dazu ist die Craspedacusta mit maximal zweieinhalb Zentimetern schlichtweg zu klein. Doch wer denkt schon daran, dass es »Jellyfish Lakes« auch diesseits von Palau vor der eigenen Türschwelle gibt.

Dieser Artikel erschien in der TAUCHEN-Ausgabe 09/22.