TEXT: Werner Fiedler
Die Verwandlungskünstler führen immer wieder Bravourstücke ihrer verblüffenden Fähigkeiten vor. Als bei einem Tauchgang in der indonesischen Lembeh Strait gerade ein Ambon-Skorpionfisch mit flippiger Struwwelpeterfrisur dazu einlädt, porträtiert zu werden, nehme ich im Augenwinkel den Fingerzeig des Guides war. Das nächste Motiv wartet also bereits. Doch an der bezeichneten Stelle liegt nichts als eine leere Muschelschale – bis mir plötzlich die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen fallen.
Was unter der Schale wie Sand aussieht, ist keiner. Bald gerät das vollendet getarnte Etwas in Bewegung und verlässt ganz vorsichtig sein Versteck. Es ist einer der häufigen Lembeh-Trolle und ein pfiffiger dazu: der Geäderte Krake. Wer ihn betrachtet und es nur will, liest Neugier und Schläue schon in seinen Augen. Scheinbar unschlüssig mustert der Zwerg sein blubberndes Gegenüber und – Unterwasserfotografen kennt er zur Genüge – versinkt wieder im Sediment. Die dabei per Wasserstrahl aus dem Atemrohr erzeugte Sandfontäne lasse ich als Abschiedsgruß gelten.
Bei jeder Begegnung bestaunte ich den rasanten Farbwechsel, mit dem diese Weichtiere ihre Erregung offenbaren, Signale aussenden oder sich der Umgebung anzupassen verstehen, wozu obendrein runzelige Veränderungen der Haut beitragen. Das Erstaunliche dabei: Ihre lichtstarken Linsenaugen verfügen lediglich über einen einzigen Rezeptortyp, so dass die Tiere eigentlich farbenblind sein müssten. Wie sie trotzdem ihr Körperdekor so gezielt zu steuern vermögen, ist noch nicht endgültig geklärt.
Ebenso faszinieren mich die Bewegungen der Kraken. Ohne Stützgerüst bewahren sie Haltung, können sich jedoch auch unglaublich verrenken oder verschlanken. Bisweilen dicht an den Grund geschmiegt, verdrücken sie sich beinahe »fließend«. Sie laufen elegant auf den Armen oder gar wie auf Zehenspitzen, wenn sie etwas transportieren. Gelegentlich wirken ihre Auftritte geradezu tänzerisch. Ist Eile geboten, schalten sie in den Schnellgang nach dem Rückstoßprinzip. Dabei wird Wasser aus dem Mantelsack durch das jetzt nach hinten gerichtete Atemrohr gepresst, so dass der Flüchtende mit nachgezogenen Armen davonschießt. Solch hastigen Abgang kann eine ausgestoßene Tintenwolke zusätzlich verschleiern. Dies demonstrieren mir eines Tages zwei dieser notorischen Einzelgänger, die sich zufällig treffen und sogleich »armgreiflich« werden, bis der Unterlegene schleunigst das Weite sucht.
Wieder und wieder versetzten mich Kraken mit ihren mutmaßlich verwirrend, tatsächlich aber koordiniert agierenden Armen in Erstaunen. Niemals behindern sich die Tentakel gegenseitig oder verknoteten sich gar. Die evolutionäre Lösung des Problems: Alle Extremitäten werden nur ausnahmsweise und in begrenztem Maß zentral gesteuert. Ansonsten lenkt das Nervensystem jedes Arms eigenständig dessen komplexe Motorik. Zudem verfügt die Krakenhaut äußerlich über eine chemische Substanz, die den Haftreflex der Saugnäpfe auf dem eigenen Körper verhindert.
Kopffüßer sind Tarnmeister der Extraklasse, aber der Geäderte Krake erweist sich in diesem Punkt als besonders gewieft. Im weichen Sediment zu versinken, in Spalten, zwischen Algen oder den Armen großer Seesterne Deckung zu suchen, sind seine leichtesten Übungen. Zieht er in ein leeres Schneckenhaus oder baut er irgendeinen Unterstand, ist der Schwierigkeitsgrad noch vergleichsweise gering. Wählt der Wicht aber Fundgegenstände und fügt sie zu einer Behausung zusammen, vermag er sich zu phänomenalen Leistungen zu steigern, die einem Gebrauch von Werkzeug gleichkommen.
Solch eine Vorführung deutet sich an, als ich gelegentlich einen Geäderten Kraken bemerke, der mit einer leeren Muschelschale im Arm über den Grund marschiert. Also dranbleiben! Plötzlich hält der Sonderling an, legt sich in sein Mitbringsel, und greift nach einer weiteren Schale, die in Reichweite aus dem Sediment ragt. Er begutachtet den Fund, hält ihn offenbar für geeignet und entfernt anhaftenden Sand. Dann stülpt er sich die Schale über, korrigiert noch ein bisschen die Position passend zum mitgebrachten Gegenstück und klappt seine neue Wohnung zu. Größe und Deckungsgleichheit stimmen nahezu perfekt – unfassbar!
Zunächst hält Cleverle beide Teile fest zusammen, doch allmählich plagt ihn wohl die Neugier. Kaum merklich öffnet er die Schalen zu einem Sehschlitz und lüftet somit auch ein wenig sein Versteckgeheimnis. In solchen Momenten fällt es wirklich schwer, das Treiben des Schlaubergers nicht zu vermenschlichen. Dies gilt auch, als ich ein Exemplar entdecke, das inmitten dreier gesäuberter Muschelschalen hockt und darüber zu grübeln scheint, was an seinem bereits weit gediehenen Eigenheimprojekt noch nicht stimmt.
In Krakenkreisen als Schlupfwinkel gleichermaßen beliebt ist allerlei Material, das im Wasser landet. Kein Wunder also, wenn mir ein Tier beispielsweise aus dem Hohlraum eines versunkenen Stücks Bambus entgegenblickt. Die Nachnutzung von Bruchstücken weggeworfener Kokosnüsse stand sogar Pate beim englischen Namen: Coconut Octopus. Dennoch habe ich seltsamerweise noch nie ein Tier in einer selbstgewählten derartigen Wohnung gesehen. Hinzu kommt immer mehr Müll, der den Meeresgrund für den findigen Bastler in einen unerschöpflichen Baumarkt verwandelt: Schlauchstücke, Glasflaschen, Plastikbecher, Konserven- oder Getränkedosen bieten all diesen Spontanmietern den schlichten Komfort eines sofort bezugsbereiten Fertighauses.
Dabei spielt es für die Tiere keine Rolle, ob das Material durchsichtig ist, oder zerbrochenes Glas sogar messerscharfe Kanten aufweist. Seine extreme Geschmeidigkeit beweist mir ein trickreicher Geäderter Krake gleich mit, als er eine seiner kurzweiligen Vorstellungen damit beginnt, wie ein drolliger Geist aus dem engen Hals einer weggeworfenen Flasche zu steigen.
Geäderter Krake (Amphioctopus marginatus)
Systematik
Stamm: Weichtiere (Mollusca)
Klasse: Kopffüßer (Cephalopoda)
Ordnung: Kraken (Octopoda)
Familie: Echte Kraken (Octopodidae)
Merkmale
Mit einer Körperlänge von ungefähr acht Zentimetern und einer Armlänge von etwa 15 Zentimetern bleibt diese Art relativ klein. Ihr deutscher Name resultiert aus der typischen, aderähnlichen Körperzeichnung aus feinen Netzlinien. Charakteristisch sind außerdem das gelbliche Atemrohr und die weißen bis hellblauen Saugnäpfe. Zeitweilig tritt unter den Augen ein trapezförmiger Fleck hervor.
Verbreitung und Lebensraum
Das indopazifische Verbreitungsgebiet dieses Kraken reicht von Ostafrika bis Kiribati. Hier besiedelt er bevorzugt küstennahe Weichböden, also Schlamm-, Sand- und Geröllgrund.
Körperbau
Die agilen Kopffüßer unterscheiden sich ganz wesentlich von ihren nächsten Verwandten, den trägen Muscheln und Schnecken. An diese erinnert am ehesten der sackähnliche Körper. Die extrem beweglichen, mit Saugnäpfen ausgestatteten acht Arme sind um den Mund herum angeordnet. Die Augen sind hochentwickelt. Die Tiere gelten als intelligenteste Wirbellose. Ihre Körperfärbung und Hautstruktur können sie rasch verändern und perfekt an die jeweilige Umgebung anpassen.
Lebensweise
Die ausgeprägten Einzelgänger sind vor allem während der Dämmerung aktiv. Tagsüber verbergen sie sich. Sie ernähren sich von lebender Beute, ergreifen blitzschnell Krebstiere, Schnecken, Muscheln oder Fische.