Zu selten für Statistiken
Leider fehlen immer wenn es um Großhaie im Mittelmeer geht die Mittel, grundlegende Statistiken anzufertigen. Im Fall des Weißen Hais beruhen die Fakten auf Sammlungen anekdotenhafter Sichtungen. Und im Fall fast aller anderen Großhai-Arten auf punktuelle Erhebungen in zwei, drei Kinderstuben und auf von Fischereiaufsehern registrierten Fängen. Warum das so ist? Weil es schlichtweg nicht mehr genügend Tiere gibt. Für Haie ist das Mare Nostrum das gefährlichste Binnenmeer überhaupt.
Mit Ausnahme der reproduktionsstarken Blauhaie und der unterhalb von 300 Metern Tiefe noch verhältnismäßig häufigen Sechskiemerhaien ist die Zahl der gesichteten und gefangenen Großhaie heutzutage zu gering, um überhaupt eine Aussage zu ihrem Gefährdungsgrad machen zu können. Allen voran gilt das für die beiden Sandtiger-Arten, die im europäischen Hausmeer kurz vor dem biologischen Aussterben stehen und die Grauhaie, die mit mehr Arten im Mittelmeer vertreten sind als die meisten Taucher vermuten. Ehemals häufige Arten wie Mako-, Fuchs- und Glatte Hammerhaie sind im Mittelmeer entweder im kritischen Maß gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Studien zufolge sind die Bestände auf ein bis zwei Prozent der Population vor hundert Jahren zurückgegangen. Zur Anzahl der lebenden Weißen Haie gibt es keine verlässlichen Angaben – aber ihre Anzahl bewegt sich gewiss in den Hunderten und nicht in den Tausenden. Dabei waren ausgerechnet sie in der nördlichen Adria vermutlich einst so häufig wie vor Kalifornien, Südafrika oder Südaustralien.
Die Ära der Kopfgeldjäger
Zur Zeit der Donau-Monarchie wurde der Fang eines jeden Weißen Hais mit einer Kopfprämie belohnt – wobei die Höhe der Zahlung sich nach der Größe der Tiere richtete. Allein zwischen 1872 und 1882 wurden nicht weniger als 53 Weiße Haie zur Prämiensicherung an das Naturkundemuseum von Trier gesendet. Die vermutlich erste Haifang-Kampagne der Neuzeit wurde noch bis ins 20. Jahrhundert verlängert. Wie zeitgenössische Postkarten und Beiträge aus damals bedeutenden Gazetten wie „Le Petit Parisien“ zeigen, war die Furcht vor Weißen Haien kein Produkt des Hollywood-Blockbusters „Der Weiße Hai“.
Der amerikanische Harpunetti Guy Gilpatrick hat dem frisch gebackenen Abiturienten und späterem Tauchpionier Hans Hass 1939 einen heutzutage reichlich archaisch wirkenden Tipp mit auf den Weg gegeben ehe der seinen ersten Blauflossen-Thunfisch an der Côte d’Azur aufs Korn nahm: „Du brauchst ein Messer, hier gibt es auch Haie.“ Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vermutlich schon früher, ging die Ära eines biologisch kerngesunden Mittelmeeres vorüber, in dem Begegnungen mit Hunds- und Sandbankhaien an abgelegenen Küstenstrichen kaum weniger exotisch waren als jene mit Zackenbarschen. Mit der industriellen Fischerei, selbsternannten Hai-Jägern und gezielten Fangaktionen in der Sturm-und-Drangphase des Tourismus verschwanden die Küstenhaie im westlichen Becken des europäischen Mittelmeeres in rekordverdächtiger Geschwindigkeit. Und doch waren Hai-Netze in Istrien, bei Opatija oder Rijeka bis in die 60er-Jahre nicht ungewöhnlich. Ältere Semester mögen sich noch daran erinnern, dass damals kaum jemand einem Ball hinterher schwamm, der über die Bojengrenze hinaustrieb. Bis zum Kollaps der Thunfisch-Bestände hefteten sich Weiße Haie üblicherweise an die Laichzüge der Schwärme, die vom westlichen Mittelmeer bis in die flachen, fjordartigen Buchten Kroatiens führten, wo die Räuber saisonale Dauergäste waren. Wie der Mageninhalt von Mittelmeer-Weißhaien verrät, sind sie dort in Ermangelung an fettreichen Robben größere Nahrungsopportunisten als anderswo und decken ihren Energiebedarf durch Thun- und Schwertfische, Delfine, Makrelen, andere Haie und Meeresschildkröten. Oder durch Schiffabfälle. Genau das, und nicht etwa das zufällige Aufeinandertreffen mit Schwimmern, Schnorchlern oder Tauchern, sind die typischen Situationen für Begegnungen mit Weißen Haien im Mittelmeer in der Neuzeit.
Weiße Haie vor Mallorca
Ironischerweise verraten die vom renommierten Hai-Experten Alessandro De Maddalena in seinem neuen Buch zusammengetragenen Statistiken, dass ausgerechnet nahe der mallorquinischen Tourismus-Hochburg Alcudia bis Mitte der 70er-Jahre alljährlich Weiße Haie aus dem Wasser gezogen worden sind, und natürlich gab es nie Unfälle. Vor dem Hintergrund der Hysterie um Peter Benchleys Hollywood-Klassiker „Der Weiße Hai“ wurden solche unangenehmen Vorkommnisse natürlich unter den Tisch gekehrt.
Italien – Hotspot für große Haie
Begegnungen mit Tauchern und leider auch tragische Unfälle mit Weißen Haien gab es in der Vergangenheit vor allem im Westen Italiens. Die erste Generation italienischer Taucher erinnert sich zudem noch an ausgewachsene Hammerhaie und andere Großhaie, die in der Straße von Messina über den tiefen Wracks auf Beutefang gingen. Selbst bis in die frühen 90er-Jahre gab es in der Region um Palermo Schulen saisonal wandernder Hammerhaie, die regelmäßig in den Archipelen vor Sizilien, vor Messina und auch vor Malta und Gozo auftauchten. Traditionell eher küstennah oder halbpelagisch lebende Arten wie Glatte Hammerhaie und Grauhaie haben ihren Lebensraum mit den Jahrzehnten immer weiter in abgelegene Regionen oder ins offene Meer verlagert, wo sich noch bis in die 80er-Jahre halbwegs stabile Bestände erhalten konnten, die aber ein Jahrzehnt später bis auf wenige Ausnahmen eingebrochen sind.
Rückzugsort vor Nordafrika
Das große Unbekannte repräsentiert die eher spärlich besiedelte nordafrikanische Küste, an die sich verhältnismäßig viele Weiße Haie zurückgezogen zu haben scheinen. Nirgendwo sonst im Mare Nostrum werden die Tiere so regelmäßig gesichtet und leider auch gefangen, wie vor der Küste Marokkos, Libyens und vor allem Tunesiens sowie im Seegebiet zwischen dem Nordost-Kap Tunesiens und der Region um Sizilien, wo sich die Topräuber die schrumpfenden Schwertfisch-Bestände mit den Fischern teilen. Dank Videoplattformen wie You Tube und Organisationen, die sich einer Bestandsaufnahme der Haie im Mittelmeer widmen sowie Fotos und Videos von Sichtungen auf Facebook teilen, kommen spektakuläre Aufnahmen ans Tageslicht. Ob es nun neugeborene Blauhaie im Nationalpark Port-Cros sind, ein Weißer Hai kaum 300 Meter vor St. Tropez, Begegnungen von Schnorchlern mit Sandbankhaien in der Ägäis. Oder eben ein trächtiges Weißes-Hai-Weibchen, das ihrem Instinkt in eine Thunfisch-Zucht vor der tunesischen Küste gefolgt ist und dort eine halbe Stunde lang mit Blei vollgepumpt wird.
Hai-Tourismus hat keine Chance
In dieser Hinsicht hat sich seit der Zeit der Donaumonarchie leider kaum etwas geändert – obwohl es in jüngster Zeit nur einen einzigen, nicht tödlichen Unfall mit einem harpunierenden Schnorchler vor Istrien gab. Macht ein Weißer Hai im Mittelmeer den Fehler, seine Rückenflosse in Sichtweite von Booten und Küste zu weit aus dem Wasser zu strecken, ist das auch heute noch oft genug sein Todesurteil. Zu groß ist der Druck von Regenbogenpresse, Hoteliers und Tourismusverbänden. Es wäre nicht auszudenken, würde eine Tauchbasis auch nur ernsthaft daran denken, Haie anzuködern wie anderswo auf der Welt.
Der britische Naturschützer, Dokumentarfilmer und langjährige „Shark Trust“-Vorsitzende Richard Peirce hat vor etwa zehn Jahren mehrere Hai-Expeditionen in einige der viel versprechenden Regionen der Adria unternommen. Und auch wenn er und sein Team ausgewachsene und junge Blauhaie ans Boot locken konnte, hatte er keine der anderen erhofften großen Arten beobachtet. „Daheim in Cornwall gäbe es eindeutig mehr Haie als im Mittelmeer“, so sagte er damals. Aus verständlichen Gründen kam es dann am Ende auch nicht mehr zur geplanten Expedition in die mögliche Kinderstube im türkischen Edremit. Die Begegnung mit einem Weißen Hai bleibt so ziemlich das Außergewöhnlichste, was einem Taucher heutzutage im Mittelmeer widerfahren kann.
Unvergessliche Begegnung
So wie es Riccardo Andreoli, ein ehemaliger Berufstaucher, an einer traditionellen Thunfisch-Reuse vor der Insel Favignana westlich von Sizilien erlebt hat: „Es waren zwei Haie, die im Abstand von einer Woche in das Netz schwammen – erst ein Weibchen, ein echtes Biest von sechs oder sogar sieben Meter Länge, und dann ein Männchen. Der Chef sagte zu Nitto und mir, wir hätten keine Zeit zu verlieren, es sei ein Loch im Netz, das geschlossen werden müsse ehe die Thunfische entkommen. Zuerst sah ich nichts im aufgewühlten Wasser, aber in der dritten Wand sah ich schließlich das gewaltige Tier, das im Netz verfangen und augenscheinlich tot war. Wir machten uns daran, die Leinen um den Körper zu kappen, aber als Nitto am Kopf angekommen war, wurde der Hai plötzlich quicklebendig, riss das Maul auf und versuchte sich zu befreien. Ich war an der anderen Seite und dachte mir nur: ,Wenn er sich befreien kann, dann war es das‘. Wir kamen kreidebleich an die Oberfläche und selbst der Chef war still. Zwei Tage später waren wir wieder da und der Hai hing immer noch in den restlichen Seilen. Wir trauten dem Braten erst als wir sahen, wie Fische an seiner Haut knabberten. Eine Woche später kam das Männchen, es gab keine Thunfische mehr, die entwischen konnten, aber so kam das Tier mit dem Leben davon.“ Und Riccardo Andreoli mit vier Schnappschüssen, die vielleicht die einzigen publizierten Unterwasser-Fotos eines lebenden Weißen Hais aus dem Mittelmeer sind.
Das sind die zehn Orte im Mittelmeer, wo man als Taucher gute Chancen hat, auf große Haie zu treffen:
1 Messina, Italien: Unweit von Messina steigen Sechskiemerhaie in Neumondnächten vom Grund bis in den verhältnismäßig flachen 30–40 Meter-Bereich auf. Die Basis Oloturia Sub führt diese Tauchgänge mit Rebreathern durch.
2 Monte Vercelli, Italien: Der 50 Seemeilen östlich von Olbia (Sardinien) auf halber Strecke zum italienischen Festland gelegene Seeberg reicht bis 59 Meter unter die Oberfläche und ist ringsherum von Tiefsee umgeben. Experimente mit Ködern haben in den vergangenen Jahren Blau-, Mako- und Fuchshaie angelockt, ganz selten sogar Hammer- und Heringshaie.
3 Lampione, Italien: Lange Zeit galt das zehn Meilen westlich der süditalienischen Insel Lampedusa gelegene Felseiland Lampione als verlässliche Adresse für Begegnungen mit Sandbankhaien, jedoch wurden die Bestände in den vergangenen zwei Jahren eindeutig dezimiert. In den Sommer- und Herbstmonaten sind Begegnungen immer noch möglich, je nach Wassertemperatur müssen dann aber Tiefen um 50 Meter aufgesucht werden.
4 Straße von Bonifacio, Frankreich/Italien: Sobald die Wassertemperaturen im Frühjahr steigen und die Plankton-Blüte einsetzt, tauchen in der Straße von Bonifacio mehrheitlich junge Riesenhaie auf, die ihrer mikroskopisch kleinen Nahrung in Richtung Ostküste folgen und Gegenstand laufender Untersuchungen sind. Die besten Chancen auf Sichtungen bestehen bei der Teilnahme an einer Delfin-Beobachtungstour.
5 Äußere Kornaten & Blitvenica, Kroatien: Die Gewässer an der Grenze zwischen Dugi Otok und den Äußeren Kornaten gelten als Blauhai-Kinderstube, in der schon mehr als zehn Tiere zugleich beobachtet wurden. Auch andere exponierte Inseln in der mittleren Adria wie Blitvenica zählen zu den verlässlichsten Seegebieten für Blauhaie im Mittelmeer.
6 Vis & Jabuka, Kroatien: Im Hochsee-Archipel von Vis leben bis heute Schwertfische, Mobulas, Thunfische, große Tümmler und vereinzelte Mönchsrobben – Haute Cuisine für Topräuber! Speziell an der unbewohnten Felsen-Insel Jabuka begegnen Hochseefischer regelmäßig Blau-, Mako- und Fuchshaien sowie sogar Weißen Haien.
7 Boncuk Bay, Türkei: Die ausladende Bucht in der Westtürkei gilt als eine der beiden wichtigsten noch verbleibenden Kinderstuben von Sandbankhaien im Mittelmeer. Während Tauchen strikt verboten ist, werden Schnorchler toleriert, wobei sich sensibles Verhalten gegenüber den von Überfischung bedrohten Tieren von selbst verstehen sollte.
8 Shark Point vor Beirut, Libanon: Ausgerechnet wenige hundert Meter vor der Hafenausfahrt Beiruts versammeln sich im August und September in den rund 40 Meter tiefen Canyons am Shark Point auch heute noch Kleinzahn-Sandtigerhaie und angeblich auch die im Mittelmeer vermutlich nahezu ausgestorbenen „normalen“ Sandtigerhaie. Der Haken: Wasserverschmutzung und Plankton-Dichte beeinflussen die Sichtweite in der Hai-Saison.
9 Hadera, Ashdod & Ashkelon, Israel: In den Wintermonaten versammeln sich Düstere und Sandbankhaie in Gruppen von dutzenden, teilweise auch bis über hundert Tieren unmittelbar vor der Nordküste Israels. Der „Magnet“ scheinen die Turbinen der Elektrizitätswerke zu sein, die warmes Kühlwasser zurück ins Meer leiten. Die israelische Küstenwache verhängt in diesen Zeiten Badeverbote, aber lokale Tauchvereine organisieren Ausflüge.
10 Filfa, Malta: Regelmäßige Sichtungen und Rekord-Fänge machten die kleine Insel fünf Kilometer südlich von Malta zum bekanntesten Weißhai-Tummelplatz im Mittelmeer. Mittlerweile erhalten Tauchbasen Ausnahmegenehmigungen, um das Militärsperrgebiet mit Gästen anzufahren. Geködert wird selbstverständlich nicht. Selbst, wenn sich noch Weiße Haie dorthin verirren, sind sie bislang nicht von Tauchern beobachtet worden – im Gegensatz zu den im europäischen Mittelmeer mittlerweile ebenso selten gewordenen Engelhaien. Es existieren auch zweifelhafte Berichte über Sichtungen von Sandtigerhaien.