Wir stehen am Gepäckband und warten auf unsere Koffer. Gerade noch in Düsseldorf, sind wir nach eineinhalbstündigem Flug in Glasgow in Schottland gelandet. Das Gepäck ist endlich da und ab geht es mit dem Taxi die kurze Strecke zur Queen Street, von wo aus der Zug nach Oban geht. Unser endgültiges Ziel, die Insel Coll, werden wir erst am nächsten Tag erreichen. Die Insel Coll ist Teil der Inneren Hebriden, einer Inselgruppe nordwestlich von Schottland im Atlantik und dient uns für die nächsten Tage als Stützpunkt für unser Vorhaben, den zweitgrößten Fisch der Welt, den Riesenhai, zu beobachten.
Ich bin nun schon zum zweiten Mal hier, insbesondere deshalb, weil sich die Riesenhaie letztes Jahr nicht sehen ließen. Nur wenn die Wetter-, Temperatur- und Strömungsbedingungen genau richtig sind, steigt das Zooplankton aus der Tiefsee vor den schottischen Inseln an die Wasseroberfläche empor. Diesen Planktonwolken folgen die Großmäuler (Cetorhinus maximus), welche man mit etwas Glück nur in den Monaten Mai bis September beobachten kann. Ändert sich in einem Jahr der Verlauf des Golfstroms, so kann es sein, dass sich kaum ein Hai in die Nähe der Inseln verirrt. Unsere Erwartungen sind daher nicht allzu hoch angesetzt, aber die Hoffnung ist da, dieses Mal Glück zu haben.
Tiere in der freien Wildbahn zu sehen, hat nun mal mit einem Zoobesuch mit garantierter Beobachtung rein gar nichts zu tun. Wir beziehen unser angemietetes Gästehaus auf Coll, machen das Schnorchel- und Fotoequipment klar und verschaffen uns einen ersten Eindruck des kleinen Eilands. Knappe 200 Einwohner gibt es auf dieser 19 Kilometer langen und circa fünf Kilometer breiten Insel sowie Unmengen von Schafen. Coll soll zu den sonnenreichsten Regionen im gesamten Vereinigten Königreich zählen. Davon merken wir bisher leider nichts, wir werden von Nieselregen begrüßt. Die Inselbewohner sind alle sehr freundlich, und wir werden gefragt, was uns hierhingetrieben hat. Wir kommen ins Gespräch und auf unsere Frage nach Basking Sharks lautet ihre Antwort: „Ja, Basking Sharks sind in letzter Zeit häufiger gesehen worden und auch nicht weit von hier.“ Unsere Hoffnung, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, wächst.
Die Spannung steigt
Die touristischen Infrastrukturen von Coll sind schnell aufgezählt: ein Fähranleger, ein kleiner natürlicher Hafen für die Fischerboote, ein kleines Hotel, ein Café mit einem gemütlichen kleinen Restaurant, eine Poststation, ein wirklich kleiner Supermarkt und viel unberührte Natur. Am nächsten Tag holen uns der Basisleiter Shane und sein Guide Luke mit der Nachricht ab: „Basking Sharks sind zurzeit da, aber das Wetter soll schlechter werden.“ Was nützen hunderte von Haien direkt vor der Haustür, wenn man wegen eines Sturms nicht rausfahren kann? Meine Erwartungen schwinden rapide. Sollte es schon wieder nicht klappen?
Zum Glück ist der Wind noch erträglich und so fahren wir nach dem Verstauen der Ausrüstung hinaus. Shane steuert das Boot, während Luke mit einem Fernglas die Wasseroberfläche in alle Richtungen abscannt. Zuvor haben wir eine Einweisung bekommen, auf was wir zu achten haben im Umgang mit den Haien sowie über deren Lebensgewohnheiten. Luke hat seinen Master in Meeresbiologie gemacht und kann über die Tiere ausgiebig berichten. Man merkt, dass er Spaß an seiner Arbeit hat, und nach kurzer Zeit schallt der Ruf „Shark!“ laut übers Boot. Es wird hektisch und alle versuchen einen Blick auf das Tier zu erhaschen. Wow! Was für eine große Rückenflosse, die da durchs Wasser zieht. Unbewusst überlege ich mir bei dem Anblick, was es hier noch für Haiarten geben könnte. Die Regeln sind klar: Vier Mann sind zuzüglich Guide gleichzeitig im Wasser und folgen ihm. Leichter gesagt als getan, denn die Entscheidung, diesmal den Trockentauchanzug mitzunehmen, erweist sich bei längeren Schnorchelstrecken definitiv als Nachteil. Aber 13 Grad Celsius Wassertemperatur mit einem Halbtrockenanzug war für mich keine Alternative. Insbesondere wenn es über Wasser, wie in diesem Moment mit 16 Grad Celsius, auch nicht viel wärmer ist.
Die Sichtweiten unter Wasser liegen bei fünf bis sieben Metern, abhängig von der Dichte des Planktons. Das Tier zeigt keine Scheu vor uns Schnorchlern und dreht erst kurz vor einem Zusammenstoß ab. Wow! Es ist fantastisch, wenn plötzlich wie aus dem Nichts ein sieben bis acht Meter großer Hai auftaucht und mit weit geöffnetem Maul direkt auf einen zuschwimmt. Das Tier zieht weiter und die Gruppe schwimmt zurück zum Boot. Was für ein Erlebnis!
Verhaltens-Kodex
Riesenhaie sind in englischen Gewässern streng geschützt. Sie dürfen nicht getötet, verletzt oder bedrängt werden.
Es gelten folgende Verhaltensregeln:
- Schnorchler müssen vier Meter Abstand zum Hai einhalten
- Anfassen ist verboten
- nicht zwischen eine Hai-Gruppe schwimmen
- es dürfen nie mehr als vier Schnorchler gleichzeitig bei den Tieren sein
- achten Sie auf die Schwimmbewegung der Haie und bleiben Sie immer seitlich zum Tier
- halten Sie Abstand zur großen Schwanzflosse
Unsichtbare Riesen
Über die Lebensweise dieser Tiere ist leider noch relativ wenig bekannt. Dies wird wohl auch daran liegen, dass die Haie den Großteil des Jahres in tieferen Wasserschichten bis 700 Meter Tiefe den Planktonschwärmen folgen und nur in der wärmeren Jahreszeit an wenigen bekannten Stellen zur Wasseroberfläche aufsteigen.
Eines der Hauptverbreitungsgebiete von Riesenhaien sind England und Schottland
Einer der besten Orte auf der Welt, um Riesenhaie zu beoebachten, ist England. Vor der Westküste Englands kommen die Riesenhaie in den Monaten Mai bis Oktober häufig vor. Das reiche Planktonvorkommen in den Gewässern lockt die Tiere an. In diesen Regionen sind die Chancen auf die Giganten zu treffen besonders hoch:
- rund um die Insel Skye
- rund um die Inseln Mull und Coll
- Malin Head
- Isle of Man
- Devon, Cornwall, Scilly
Sie ernähren sich von Zooplankton, überwiegend von Ruderfußkrebsen. Sie patrouillieren knapp unter der Oberfläche mit weit aufgerissenem Maul durch die Planktonwolken. Hierbei schauen oft die charakteristische Nasenspitze, die große Rückenflosse und die Spitze der Schwanzflosse aus dem Wasser. Mit einem speziellen Kiemenreusenapparat filtern die Riesen das Plankton aus dem Meer. Dabei schlucken Riesenhaie rund 1800 Tonnen Wasser in der Stunde! Ein eindeutiges Erkennungsmerkmal sind die Kiemenspalten, die fast den gesamten Kopf wie ein Kragen umschließen. Große Zähne wie ihre Verwandten, die Weißen Haie, brauchen die ruhigen Riesen nicht, sie tragen zahlreiche kleine und gebogene Zähne in mehreren Reihen im Ober- und Unterkiefer.
Groß, größer, Riesenhai!
Der Riesenhai (Cetorhinus maximus) ist mit einer Körperlänge von bis zu zehn Metern und einem Gewicht von bis zu vier Tonnen nach dem Walhai der zweitgrößte bekannte Fisch der Welt. Hier im Größenvergleich zum Weißen Hai (im Bild unten) dargestellt. Allein seine Rückenflosse kann einen Meter hoch werden.
Wir fahren in direkter Inselnähe weiter auf der Suche nach anderen Tieren. Und tatsächlich: Wir müssen nicht lange suchen und die nächste Finne taucht an der Wasseroberfläche auf. Nein, nicht einer, sondern zwei Haie patrouillieren entlang der Felsen. Was für ein Tag! Riesenhaie bevorzugen kälteres, planktonreiches Wasser und unternehmen weite Wanderungen. Oft werden sie einzeln angetroffen, treten aber gelegentlich auch in größeren Gruppen von bis zu 50 Tieren auf. Über die Vermehrung und Tragzeit ist so gut wie nichts bekannt. Sie bringen nach vermutlich längerer Tragzeit von einem Jahr und mehr lebende Jungtiere zur Welt.
Die nächste Gruppe gleitet ins Meer. Das Wasser ist hier nicht besonders tief und wir können den Grund erkennen. Dafür vermasseln uns die Feuerquallen und das viele Plankton etwas die Sicht auf die Tiere. So soll es die nächsten Tage weitergehen. Mal tauchen die ersten Haie knapp hinter der Hafeneinfahrt auf und mal müssen wir mehrere Stunden die Küstenlinie absuchen. Keinem von uns wird langweilig bei der grandiosen Aussicht auf menschenleere Buchten und steile Felsen. Wir haben es tatsächlich geschafft: am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Dankbarkeit kommt auf. Die nächsten Tage vergehen wie im Flug, und jeder bekommt seine Chance, mit den Riesenhaien zu schnorcheln.
Eine Haut wie Sandpapier
Der Körper der Riesenhaie ist mit sogenannten Placoidschuppen bedeckt. Diese „Hautzähne“ sorgen für Festigkeit und vermindern den Strömungswiderstand. Dadurch fühlt sich ihre Haut rau und sandpapierartig an.
Die Größe der gesichteten Haie schwankt zwischen drei bis acht Metern. Die Tiere können eine Maximallänge von zwölf Metern erreichen, wobei der Großteil der Tiere deutlich kleiner ist. Sie sind die zweitgrößte Fischart der Welt und werden in ihrer Größe nur vom imposanten Walhai übertroffen. Die Haie kommen fast zum Greifen nah heran, und wir können gut die schmarotzenden Meerneunaugen und deren Bissmale auf der Haut erkennen. Die Bestände der Riesenhaie gehen wegen der geringen Vermehrungsrate stark zurück. Die Tiere wurden aufgrund ihrer ölreichen Leber (sie macht rund 25 Prozent des Körpergewichts aus) und ihrer Flossen in der Vergangenheit stark bejagt. In einigen Teilen dieser Welt ist es heutzutage leider noch ein großes Problem, obwohl der Riesenhai in der Roten Liste als gefährdet eingestuft ist. Im Vereinigten Königreich ist der Hai in der Zwölf-Meilen-Zone geschützt, eine Ausweitung dieser Schutzzone ist geplant.
Eindeutige Erkennungsmerkmale
A Eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale eines Riesenhais sind seine fünf Paar Kiemenspalten, die den Körper hinter dem Kopf wie ein Kragen umgeben und sich an der Körper-ober- und -unterseite fast treffen. An der Innenseite sind die Kiemenbögen mit speziellen Reusen ausgestattet. Sie tragen modifizierte Zähnchen, die der Ernährung und dem Filtern des Planktons dienen.
B Die Schnauze eines Riesenhais ist ein weiteres Identifikationsmerkmal. Sie läuft konisch-spitz zu, ist extrem lang gezogen und ragt weit über das Maul hinaus.
Das Wetter verschlechtert sich zusehend und an eine Ausfahrt ist nicht zu denken. Wir nutzen die Zeit, um mit Kipp, einem seit vielen Jahren auf der Insel lebenden Maler, die Insel zu erkunden. Die Tour bringt neue Eindrücke und viele Fotos von weiten Landschaften, einsamen Burgen und wilden Buchten. Wir finden am Strand die Überreste einer toten Robbe und erfahren, dass vor einer Woche Orcas den Küstenstreifen entlanggezogen sind. Sie sind auf der Suche nach Robben. Orcas scheinen Feinschmecker zu sein und verzehren nur den Kopf und die Innereien der Pelzträger.
Foto-ID-Projekt
Bei der Erforschung des Wanderverhaltens und Lebens der Riesenhaie kann jeder einzelne mithelfen. Jedes Individuum trägt eine spezifische Pigmentierung auf der Haut, daran lassen sich die Tiere gut unterscheiden. Einfach Fotos von den Tieren machen und an das Foto-ID-Projekt von Shark Trust senden.
Tipps zum Fotografieren:
- Kamera auf höchste Auflösung stellen
- die Sonne sollte im Idealfall hinter dem Fotografierenden sein
- Fotos von der linken und rechten Seite der Rückenflosse machen
- Fotos von der Schwanzflosse und Schnauze schießen
Infos: www.baskingshark-photoid.org
Naturparadies
Aber auch ein Ausflug zur nur 600 mal 200 Meter großen Insel Staffa lohnt sich. Übersetzt bedeutet Staffa „Insel der Säulen“ und genau die kann man hier bewundern. Erkaltete Lava formte die sechseckigen Basaltstehlen und bildete grandiose Formationen. Oder auch eine Ausfahrt nach Lunga, einer Insel der Treshnish Isles. Hier brüten bis Anfang August Tausende von Seevögeln. Insbesondere die Kolonie der Papageitaucher hat es mir angetan. Die kleinen bunten Gesellen sind putzig und zeigen wenig Scheu vor den Menschen.
Die besten Plätze, um Riesenhaie zu beobachten, sind Schottland mit den Inneren Hebriden, die Insel Isle of Man in der Irischen See sowie Südwest-England im Bereich um Cornwall. Hier treffen die Haie regelmäßig in der Zeit von Mai bis September ein. Es scheint, dass die Tiere auf ihrer Wanderung zuerst in Cornwall auftauchen, bevor sie weiter zu den Hebriden ziehen. Die Zeit vergeht wie immer viel zu schnell und nach einer Woche voller Eindrücke und gefüllter Speicherkarten geht’s zurück nach Deutschland. Wir nehmen Abschied von den sympathischen Großmäulern.
Harmloser Vielfraß
A Trotz seiner Größe ernährt sich der Riesenhai von Plankton, bevorzugt Ruderfußtierchen. Er schwimmt mit weit geöffnetem Maul durchs Meer und filtert die Nahrung mit den Kiemenreusen aus dem Wasser. Er schafft rund 1800 Tonnen Wasser in der Stunde!
B Im Gegensatz zu vielen verwandten Haiarten wie dem Weißen Hai trägt der Riesenhai sehr kleine, gebogene und einspitzige Zähne im Maul. Sie sitzen in mehreren Reihen im Ober- und Unterkiefer.