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Tödliche Geisternetze

Taucher befreit einen Seeskorpion (Myoxocephalus scorpius) aus einem Geisternetz am Wrack der 'Friedrich Engels' in der Ostsee
Taucher befreit einen Seeskorpion aus einem Geisternetz am Wrack der ‚Friedrich Engels‘ in der Ostsee (W. Wichmann)

Auf den ersten sechs Metern konnten wir gerade mal 30 Zentimeter weit gucken, dann kam die Sprungschicht, es flimmerte richtig und plötzlich klarte die Sicht auf“, berichtet Gary Krosnoff, Expeditionsteilnehmer bei dem Projekt im Jahr 2014 „Geisternetzen auf der Spur“ in der Ostsee. „Wir konnten 10 bis 15 Meter weit schauen und erblickten beim Abtauchen den ‚Stahlsegler‘. Ein 40 Meter langes und zwölf Meter breites Schiffswrack. Es war vom Bug bis zum Heck komplett mit Netzen verhangen – ein gruseliger Anblick. Einzelne Schwimmtaue lösten sich wie Geisterhände aus dem Wrack und schwebten im Wasser. Die Kadaver von bis zu einem Meter langen Dorschen säumten das Wrack. Einen Fisch konnten wir noch lebend aus den Netzen befreien.“ Diesen traurigen Anblick wird wohl keiner aus der Tauchgruppe vergessen. Das Team bestand aus Forschungs-, Berufs- und Sporttauchern, die im Auftrag des WWF, des Vereins Archaeomare und des Deutschen Meeresmuseums seit 2013 die deutsche Ostsee nach Geisternetzen absuchen.
Geisternetze sind keine Hirngespinste der Seefahrt wie Geisterschiffe, es handelt sich dabei um verloren gegangene Fischernetze, die entweder offen im Meer treiben oder sich an Hindernissen, wie zum Beispiel Wracks, verfangen haben. Eine sehr ernstzunehmende Bedrohung, denn die bis zu 100 Meter langen Fanggeräte werden zu einer tödlichen Falle für Fische, Meeressäuger und Wasservögel.

Taucher bergen einen Teil des Netzes, um ihn später an Bord zu untersuchen (W. Wichmann)
Taucher bergen einen Teil des Netzes, um ihn später an Bord zu untersuchen (W. Wichmann)

Geisternetze aus Nylon haben eine Lebensdauer von 600 Jahren!
„Gerade die Geisternetze an den Wracks sind für Fische tückisch, da sie die untergegangenen Schiffe als Verstecke und Kindergarten nutzen. Hat sich erst mal ein Fisch im Netz verheddert, gibt es kein Entkommen mehr. Sie können leider keinen Rückwärtsgang einlegen“, betont Krosnoff traurig. Das zweite Problem, das jetzt auch durch die Expedition bestätigt wurde: Die Netze nehmen keine Rücksicht auf historisch wertvolle Wracks, die gerade in der Ostsee häufig sind. Wie schwere Planen scheuern sie an alten Holzplanken und können wichtige Denkmäler zerstören. „Deshalb arbeiten wir auch eng mit der deutschen Denkmalpflege zusammen“, so Jochen Lamp, Leiter des WWF-Ostseebüros.
„Unsere polnischen Kollegen haben bereits 2011 damit angefangen, die Ostsee nach Geisternetzen abzusuchen. Sie entwickelten auch eine sogenannte ‚Netzegge‘, die mit Hilfe eines Fischkutters über den Boden gezogen wird. Daran bleiben dann die auf dem Boden liegenden Geisternetze hängen und können geborgen werden. In zwei Jahren holten sie 27 Tonnen aus der Ostsee!“ Eine sehr effektive Methode, die nun auch bald in deutschen Gewässern zum Einsatz kommen soll.
Um die verlorenen Netze zu finden, bedienen sich die Expeditionsteilnehmer der Hackerkarten. Hacker nennt man die von den Fischern in Karten eingetragenen Hindernisse, an denen sich die Netze „verharken“ können. „Wir haben diese Standorte zusammengetragen und lassen sie jetzt noch durch die Fischer verifizieren“, so Lamp.

Seevögel auf Helgoland bauen ihre Nester aus Geisternetzen (W. Wichmann)
Seevögel auf Helgoland bauen ihre Nester aus Geisternetzen (W. Wichmann)

Unsichtbare Stellnetze sind am gefährlichsten
28 Wracks wurden bereits untersucht. Dabei notierte das Tauchteam auch die genaue Lage der Netze, den Zustand, die Art des Fischfanggeräts und den Zerfallgrad. „Es macht einen Unterschied, ob es sich bei dem Geisternetz um ein schweres Schlepp- oder ein fast unsichtbares Stellnetz handelt, das durch die Schwimmer aufrecht in der Wassersäule schwebt. Hier drin verfangen sich viel mehr Fische, und auch die Taucher müssen extrem aufpassen, da das dünne Nylongarn kaum zu sehen ist!“, so Krosnoff. Man fragt sich, wo all diese Netze herkommen? „Stürme reißen sie mit sich, allein im Greifswalder Bodden stehen 600 Kilometer Stellnetze!“, sagt Lamp. Auf die Frage, ob mancher Fischer das Meer auch als Müllplatz für kaputte Netze nutzt, antwortet Krosnoff: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie würden ja ihre eigenen Fanggründe vermüllen und solch ein Netz stellt auch eine gewisse Konkurrenz dar, denn es kann nach drei Monaten noch etwa 20 Prozent der Fischmenge fangen, die beim aktiven Einsatz möglich wäre!“, und ergänzt: „Zum anderen gibt es in den Häfen sehr gute Entsorgungseinrichtungen für unbrauchbare Fanggeräte.“
Nach Schätzungen gehen in Europa jährlich insgesamt etwa 25 000 Netze von circa 1250 Kilometer Länge verloren – das ist eine Menge! Und das größte Problem: Heutzutage bestehen die Netze aus Kunststoff und nicht mehr aus Naturfasern, wie früher. „Die Nylonnetze halten 600 Jahre!“, so Lamp und fügt hinzu: „Sie verrotten einfach nicht, selbst wenn sie zerrieben werden, bleiben sie als Mikroplastik im Meer, werden von Muscheln und Krebsen aufgenommen und landen dann schließlich wieder auf unseren Tellern.“ Nach Schätzungen der FAO (Food and Agriculture Organization) besteht fast ein Zehntel des weltweiten Meeresmülls aus Geisternetzen, etwa 640 000 Tonnen!
Die Taucher konnten bei ihren Einsätzen auch beobachten, dass manche ältere Netze keinerlei Bewuchs aufwiesen, „das könnte darauf hinweisen, dass austretende Weichmacher jegliches Wachstum hemmen“, so Krosnoff. Diese Vermutung wird gerade noch wissenschaftlich untersucht.
Der UW-Filmer Krosnoff wird dabei sein, wenn die polnischen Fischer den deutschen Kollegen den Einsatz der „Netz-egge“ erklären. Um zu dokumentieren, wie dieses Gerät funktioniert, wird er sich an eine Boje klammern und den Einsatz unter Wasser filmen. Eine riskante Aktion, aber sie dient dazu, das ganze Thema zu visualisieren, denn genau hier liegt das Problem: Die Geisternetze sieht man nicht! „Kaum einer kann sich unter dieser Problematik etwas vorstellen, solange, bis er mit eigenen Augen die tödlichen Netze sieht und die vielen verendeten Fische, die völlig umsonst gestorben sind“, so Krosnoff.

 

Heute Abend, am 6. November 2015, erscheint im NDR um 20.15 Uhr in der Nordstory eine Dokumentation über die Geisternetze der Ostsee. Infos dazu gibt es hier. Wer die Sendung verpasst, hat findet sie hier in der NDR-Mediathek.