Wenn der Jetlag voll eingesetzt hat, fühlt sich das Läuten des Weckers um 6.30 Uhr schmerzhaft an. Der Anblick der großen Betonbauten, die aus dem dunkelgrauen Himmel auftauchen, hebt das Energieniveau auch nicht. Taucher mit halbgeschlossenen Augen nippen am Kaffee und versuchen, ihre Kräfte zu mobilisieren. Aber da wir noch im Hafen von Hulule gegenüber der Hauptstadt Malé vor Anker liegen, erwartet niemand, dass der Checktauchgang etwas Außergewöhnliches sein wird. Irrtum! Die ersten Sekunden unter der Wasseroberfläche beweisen, dass alle völlig falsch liegen.
Hunderte von Stachelrochen rasen mit voller Geschwindigkeit direkt auf die halb schlummernden Taucher zu, als ob sie entschlossen wären, sie zu rammen. Einige ziehen in Reichweite vorbei, während andere sie sanft anrempeln. Immer wieder reißen die Taucher die Augen auf und starren sich schockiert an, um zu prüfen, ob sie nicht doch gerade träumen.
Aber das Phänomen hat eine Erklärung. Die Stachelrochen kamen, um zu überprüfen, ob unser Dhoni nicht ein Fischerboot war, das die Reste des täglichen Fangs ins Wasser beförderte. Statt der Mahlzeit warf das Boot dann Taucher ab, was die Tiere anlockte – allerdings nicht für lange. Irgendwo in der Ferne dröhnte wieder ein Bootsmotor, was die Rochen dazu brachte, umzukehren und zu einem neuen potenziellen Ziel zu schwimmen.
Und diesmal haben die Tiere tatsächlich eine Nahrungsquelle gefunden. Als die Wolke aus Fischblut zusammen mit einigen größeren Fischresten nach unten sinkt, wird es wild. Es sind nicht nur die Stachelrochen, die um einen Biss kämpfen. Drei große Schwarzspitzenhaie bewegen sich schnell über den Blutfleck, um sich ein Stück der Mahlzeit zu schnappen. Einige große Thunfischköpfe fallen auf den Grund, wo sie zwei Tigerhaie anlocken.
Schwebekünstler
Zurück an Bord, schon ein bisschen wacher. Die Moonima segelt südlich durch das Male-Atoll. Die hässlichen Betonbauten verblassen in der Ferne. Der graue Himmel reißt auf, die Sonne versorgt die Taucher allmählich wieder mit Energie. Noch bevor sie das intensive morgendliche Erlebnis mit Haien und Stachelrochen verdauen können, kommt es zu einer weiteren magischen Nahbegegnung. Das Kandooma Thila ist üblicherweise starken Gezeitenströmungen ausgesetzt.
Dort, wo die Strömung auf das Riff trifft, versammeln sich zahllose Fische. Die heute erstaunlich milde westliche Strömung erlaubt es uns, bis zur Spitze der Zinne zu schwimmen. In 30 Metern Tiefe treibt sich eine Schule von Adlerrochen herum. Überraschenderweise stören sie sich nicht an der Anwesenheit von Tauchern und lassen diese ihre Fähigkeit bewundern, bewegungslos in der Strömung zu schweben.
Auf dem Weg der Besserung
Grüne Palmen, die aus feinstem, weißen Sand und malerischen Stränden emporwachsen, umgeben von endlosen türkisfarbenen Lagunen. Korallenriffe voller Leben und Fischschwärme ohne Ende – so haben wir das »Land der Atolle« in Erinnerung. Was das Erscheinen in Tauchmagazinen angeht, so sind die Malediven sicherlich das meist beschriebene Reiseziel aller Zeiten. In den späten 1990er Jahren und noch später dann in den Jahren 2015 bis 2016 verursachten El-Niño-Ereignisse jedoch eine massive Korallenbleiche, gefolgt von einem Korallensterben enormen Ausmaßes.
Diese Phänomene bewiesen, dass selbst das idyllischste Paradies der Welt nicht ewig ist. Und schon gar nicht unverletzbar. Seit mehr als 20 Jahren sehen wir die Malediven nicht mehr als unberührtes Stück von Poseidons Reich. Glücklicherweise waren nicht alle Riffe betroffen. Es gibt immer noch wunderschöne Korallengärten zu sehen. Aber noch spannender und noch erfreulicher ist es, Orte mit neuem Korallenwachstum zu bewundern.
Das flache Korallenriff rund um die Insel Embudu ist ein Beweis für die Kraft der Natur. Was vor ein paar Jahren noch wie eine Wüste aussah, zeigt jetzt Anzeichen der Erholung. Neue, winzige Korallen tauchen aus den Trümmern auf. Und an manchen Stellen sind die Fische froh, in ein renoviertes Zuhause zurückzukehren.
Diese positiven Anblicke dokumentieren, dass die Natur immer noch die Kraft besitzt, sich von massiven Schlägen zu erholen. Wenn reichhaltige Meeresströmungen den Korallen genügend Nahrung zum Wachsen bieten, und die Wassertemperatur nicht über längere Zeiträume auf über 30 Grad Celsius ansteigt, können die Schäden allmählich wieder behoben werden.
Schulen ohne Ende
Nächster Stopp ist Alimatha Jetty: ein legendärer Nachttauchgang, bekannt für Hunderte von Ammenhaien und Dutzende von Stachelrochen. Und einst von etwas zweifelhaftem Ruf. Aufgrund regelmäßiger Fütterungsaktivitäten begleiteten die Tiere die Taucher bei ihren Nachttauchgängen. In Stoßzeiten war es nicht selten, dass zehn Boote ihre Taucher hier absetzten. Das Spektakel erinnerte eher an einen Zirkus als an ein Geschehen in der Natur. Aber obwohl die menschlichen Aktivitäten das Gesicht des Riffs erheblich verändert haben, ist es nach wie vor die Heimat eines reichen Fischlebens.
Die Sonne ist noch nicht untergegangen, als wir zu unserem dritten Tauchgang ins Wasser springen.
Das Wasser sieht dunkel, aber sauber aus. Wir haben nicht viel Zeit, um uns umzusehen, bevor uns die starke Strömung über das Riff zieht. Wir müssen schon ein bisschen kämpfen, um einen Schutz vor dem strömenden Wasser zu finden. Noch ist kein Hai zu sehen, doch ein dunkles, rundes Objekt in der Ferne weckt die Neugierde aller. Als es näher kommt, entpuppt es sich als ein riesiger Schwarm von Doppelfleck-Schnappern.
Es müssen Tausende von Fischen sein. Der dicht gedrängte Schwarm wirbelt in einem Liebestanz. Mehrere Männchen umringen ein Weibchen und bilden eine enge Mikroeinheit. Die Fische trennen sich vom Rest des Schwarms und schwimmen, während sie versuchen, so nah wie möglich aneinander zu bleiben, gemeinsam zur Wasseroberfläche. Dabei sehen sie aus, als wären sie in Trance. Wenn das Weibchen seine Eier ins Wasser entlässt, halten sich die Männchen noch näher bei ihm, während sie ihr Sperma abgeben. Unmittelbar nach der Freisetzung des Laichs scheinen sich die Liebenden nichts mehr zu bedeuten, und die Gruppe zerstreut sich.
Fushi Kandoo
An der Außenseite des Laamu-Atolls fällt das Riff allmählich auf eine Tiefe von 35 und mehr Metern ab. Anfangs liegt die Fischkonzentration noch im »maledivischen Standardbereich«. Doch je mehr wir uns der Mündung des Kanals nähern, desto fischreicher wird es. Wo die unberührten, gesunden Hartkorallen keine Kolonien gebildet haben, ist das Riff mit Grünalgen bedeckt. Da die Meeresströmungen für ständigen Wasseraustausch sorgen, gibt es fast keine Anzeichen von Korallenbleiche.
An der Ecke der Kanalmündung entdeckt man eine erstaunliche »Fischstadt«, eine wahre Metropole: Kein anderes Bild würde eine 15 Meter breite Putzerstation, die sich zwischen zwölf und 20 Metern Tiefe ausbreitet, besser beschreiben. Fast alle Fischarten, die in maledivischen Gewässern leben, sind hier in großer Zahl zu sehen. Perfekt geformte Schwärme von Rotschwanz-Falterfischen schwingen in der Wassersäule. Buckelschnapper fließen wie Flüsse zwischen den Korallenblöcken.
Große Wolken von Schwarzweiß-Schnappern, Blaustreifen-Schnappern und Stachelmakrelen bewegen sich am Riff entlang. Die wichtigsten Bewohner sind jedoch der Gestreifte und der Meyers-Falterfisch, die fleißigen »Arbeiter« der Reinigungsstation. Die abfließende Strömung bietet die richtigen Bedingungen für einen Großputz von drei Mantas. Das strömende Wasser ermöglicht es den Rochen, fast bewegungslos über der Putzerstation zu hängen, sich von den winzigen Fischen abtasten und von Parasiten befreien zu lassen.
Liebe zeigen
Als die Mantas die Putzerstation verlassen haben, übernimmt ein Kopffüßerpaar die Show. Der männliche Oktopus tarnt sich nicht mehr, um mit der Umgebung zu verschmelzen. Im Gegenteil. Um die Aufmerksamkeit der Weibchen auf sich zu ziehen, kleidet er sich in bunte Farben. Ein Weibchen wiegt sich sanft in der Strömung. Das Männchen schickt der Lady einen Tentakel entgegen, um die Verbindung herzustellen. Während das Paar die Liebesmomente genießt, verlieren die Tiere ihre Tarnung, was sie der Gefahr aussetzt, entdeckt zu werden. Die Augen von Riffhaien und Zackenbarschen halten genau nach solchen Paaren Ausschau. Liebe und Tod – das kann in der Natur nahe beieinander liegen.
Das Safariboot
Die im Jahr 2002 vom Stapel gelaufene EcoPro Moonima ist im traditionellen maledivischen Stil und aus qualitativ hochwertigen Tropenhölzern gebaut. Sie ist 30 Meter lang und verfügt über insgesamt zehn Kabinen, jede mit eigenem Bad und Klimaanlage ausgestattet. Die maximal 20 Gäste entspannen auf drei Decks, beim Outdoor-Dining oder an der Bar. Getaucht wird von einem separaten Dhoni aus. Fotografen steht für ihre Kameras eine spezielle Lade- und Aufbewahrungsstation zur Verfügung.
Weitere Infos:
www.ecoprodivers.com